Wer mit der Bahn pendelt, hat sein Schicksal einerseits in die Hände fremder Mächte gegeben, erhält dafür andererseits aber einen Sack voll Unterhaltung. Und das täglich. Manchmal ist das lustig, wenn sich etwa Frauen im Regionalexpress darüber aufregen, dass „der Özil jetzt bei Real gegen Dortmund mitspielt“. Der habe doch schließlich letztens noch für Deutschland gekickt…
Oft ist es herzzerreißend, wenn sich die Teilnehmer einer Fernbeziehung im Morgengrauen auf dem Bahnsteig tränenreich Lebewohl sagen. Wenn rote Augen und in schwarzen Bächen die Wangen herunter rinnender Kajal der Verlassenen einen geordneten Übergang in den Arbeitsalltag erschweren.
Da sind Wiedersehen eindeutig schöner: Nach Liebe und Zuneigung hungernde Lebensabschnittsgefährten fallen sich unter wildem Küssen in die Arme. Dabei bleibt zwar auch kaum ein Make-Up trocken, doch in der Regel geht’s nach der ersten Kontaktaufnahme ja auch gleich nach Hause und nicht ins Büro….
Leider sind nicht alle Wiedervereinigungen so leidenschaftlich. Häufig genug regiert die kühle Nüchternheit. Wie neulich in Essen. Die Frau Mama kehrt wohl von einer Dienstreise zurück. Als sie aus dem ICE steigt, trägt sie Mantel, Kostüm und einen Aktenkoffer aus Leder, wie ihn Juristen gern mit einem gewissen stolz durch die Welt wuchten. Papa sieht aus wie der Hausmann – oder er ist Erdkundelehrer. Schlabber-Jeans, Sweatshirt und Halbglatze. Um von seinem erbärmlichen Zustand abzulenken, begleitet ihn das offenbar aus der Beziehung mit der Geschäftsreisenden hervorgegangene Kind. Ein kleiner blonder Junge. Mit Blumen! Groß ist die Freude bei Mama, als der Kleine ihr die Tulpen entgegenstreckt und strahlend eine Umarmung einfordert. Dabei zerstört Mama erst die Frisur des Mini-Justin-Biebers und nimmt auch wenig Rücksicht auf die Pflanzen. Aber sie mag den Jungen. Das wird deutlich. Der Erdkundelehrer hingegen, der die gesamte Zeit immer wieder vorsichtig versucht, durch zögerliches Vorbeugen seines Kopfes in Richtung der Bahnfahrerin auch eine Portion Zuneigung zu erhaschen, bekommt einen kurzen Kuss auf die Wange. Das war’s. Keine Sekunde verweilen die geschürzten Lippen des Barbara-Salesch-Doubles auf der Stelle unterhalb des Jochbeins. Bitter. Und das ist kein Einzelfall. Furchtbar.
Wann fängt so was an? Wann beginnen Frauen und Männer damit, ihren ehemals stets voller Sehnsucht erwarteten und heiß geliebten Beziehungspartner so distanziert zu behandeln? Genügen ein paar Jahre unter demselben kreditfinanzierten Dach? Sind es kleine blonde Jungen, die plötzlich im Zimmer stehen, Kacka in der Hose haben und jegliche Leidenschaft ersticken? Oder findet man die irgendwann sowieso nur noch nach drei Sekt und ner Runde Feiglinge im Sambazug nach Norderney?
Wann schließen partnerschaftlich oder sogar vertraglich aneinander gebundene Menschen stillschweigend das Abkommen, nur noch nebeneinander her zu leben? Ab welchem Zeitpunkt genügt es ihnen, dass dort wo sich früher zwei Zungen und vier Lippen ineinander verkeilten und miteinander wälzten wie Verliebte in einer Kissenlandschaft, heute nur noch ein einzelner Kuss die Wange oder Stirn, streift?
Pah. Diese entfernt an eine Beziehungsbekundung erinnernde Körperlichkeit ist höchstens dann in Ordnung, wenn der jeweils andere nach dem Genuss von Mettbrötchen mit Zwiebeln, diversen Bieren und Kippen aus dem Mund riecht wie eine Sondermülldeponie. Aber auch nur dann! Es sei denn, man lebt in Düsseldorf grüßt jeden Zeitgenossen so. Bussi links. Bussi rechts.
Ich will nicht, dass solche Szenen zunehmen. Deshalb plädiere ich für mehr Lippenberührungen. Auf dem Bahnsteig. Zur Begrüßung. Zum Abschied. Egal. Sogar in Düsseldorf. Küsst euch auf die Lippen, verdammt! Überall und immer.
Das ist schön.
Ich hab übrigens gerade Herpes.
Das ist doof.