Rainer Bredouille, Sexismus und ich

Seit einer Woche diskutiert das Land über den Sexismus der Menschen im alltäglichen Umgang miteinander. Na gut, außer der Spiegel, der macht auf mit der Brillant-Uhr von Eva Braun.

Der Auslöser der Chauvi-Debatte: Eine Stern-Reporterin hatte darüber geschrieben, wie FDP-Spitzenkandidat Rainer Brüderle sie auf plumpe Weise am Tresen angemacht habe – vor  einem Jahr. Rainer Brüderle ist deshalb in der Bredouille. Menschen zeigen auf ihn, mit dem NACKTEN Finger. Doch er schweigt. Das hatten wir gemeinsam, der Rainer und ich. Denn auch ich habe bis jetzt keine Worte zu diesem Thema gefunden. Aus Scham.

Ja, auch ich bin ein Sexismus-Opfer geworden. In einer Zeit, in der ich mich nicht wehren konnte. Als Werkstudent. Die Täter. Frauen! War schlimm. Es ist nun Zeit, darüber zu reden. In Absprache mit meiner Therapeutin, meinem Pastor und meinen zwei Twitter-Followern, die alle meinen, dass dieses Ereignis der Öffentlichkeit nicht mehr vorenthalten werden dürfe, habe ich mich zu diesem Schritt entschlossen. Aber dazu später mehr.

Zunächst einmal was Grundsätzliches. Ich kenne mich zwar mit dem Ausfüllen von Dirndln nicht aus, aber aus dem Mund eines 67-Jährigen klingt es für Frauen einfach nicht gut, wenn er ihr versucht durch die Blume zu sagen, dass das Holz vor ihrer Hütte für einen ganzen Winter reichen könnte. Selbst wenn der Charmeur erst 27 Jahre alt wäre, es wäre wohl nur ein bestimmter Typ Frau auf Anhieb empfänglich für solche Komplimente. (Bitte Namen und Adressen in der Kommentarleiste eintragen, Zuschriften mit Bild erwünscht!).
Die Mehrheit der Damenwelt findet derartige Maschen doch wohl eher grob und schlüpft durch sie hindurch. Selbstverständlich nicht ohne völlig zu recht Verachtung zu zeigen. So fern es sich nur um den versuchten Flirt eines fremden Jägers am Tresen handelt, können Frauen die Balzerei getrost unter der Rubrik „Neue Geschmacklosigkeiten“ verbuchen und es dabei belassen. Wer „schicke Titten“ sagt, um erfolgreich eine Frau kennen zu lernen, ist entweder Atze Schröder oder Mitglied in einem Sauna-Club. In die Augen, Männer, in die Augen des Weibes müsst ihr schauen! Das sagt schon Will Smith als der Date-Doctor. Schenkt ihnen Höflichkeit und Respekt, das sind die Erfahrungen von Lothar Matthäus. Und der kriegt sie alle…

Ist ja alles schön und gut. Schlimm und fies wird es erst, wenn sich die Frau in einem Abhängigkeitsverhältnis zum Mann befindet. Er Chef oder wichtiger Kunde ist. Dann Frauen mit eindeutigen Angeboten in eine kompromittierende Situation zu bringen, ist einfach nur schlecht und zu verurteilen.

Umgekehrt geht das aber auch.

In einer großen deutschen Stadt war ich während des Studiums bei einem großen Unternehmen als Werkstudent beschäftigt. Handlanger mit Vordiplom. Auf einer Messe habe ich die schönen Produkte des Hauses angepriesen. Nebenan kochte live so ein Showkoch irgendwas Leichtes aus Asien. Zwei Frauen des Unternehmens, in diesem Moment meine Chefinnen, schnatterten sich an dem Stand langsam in meine Nähe. Bis ich sie gut hören konnte. Dabei gingen sie der Frage nach, ob ich so was nicht auch bei ihnen daheim machen wollte. So in der Küche den Hengst spielen. Allerdings nur mit einer Schürze bekleidet. Die beiden wollüstigen Damen, schätze damals so Ende 30, Anfang 40, garnierten ihre Fantasien noch mit der Vorstellung, dass ich anschließend ja auch noch die Küche putzen könnte. Nackt. Sie blickten mich erwartungsfroh an, als ob sie gerade alle drei Bände „Shades of Grey“ gelesen hätten, die zu diesem Zeitpunkt ja noch gar nicht erschienen waren. Seit diesem Tag habe ich diesen leicht rötlichen Teint im Gesicht und eine Abneigung gegen die Reinigung von Küchen! Vor Pein berührt, konnte ich diesen Anschlag auf meine Würde nicht angemessen kontern. General Schwartzkopf war schon pensioniert und Domian nicht erreichbar. Ich sagte so etwas wie „Nananananana…“, hob tadelnd den Zeigefinger und trottete davon. Irgendwo war bestimmt etwas aufzuräumen.

Beschweren? Ich wäre ja ausgelacht worden. Zudem war ich jung und brauchte das Geld.

Mittlerweile, also eigentlich schon auf dem Weg von besagter Messe nach Hause, habe ich das Erlebte verarbeitet. Ist ja im Prinzip kein schlechtes Gefühl, begehrt zu sein. Wir leben nun einmal in einer völlig sexualisierten Welt. Aber mit ein wenig Niveau sollte die Begierde schon formuliert sein. Dabei seine Macht auszunutzen ist scham- und stillos. Das gilt auch für Frauen!

So! Das musste mal gesagt werden. Muss jetzt Schluss machen. Auf RTL kommt der Bachelor.

Thai-Massage

Leicht branden die Wellen des indischen Ozeans ans Ufer der Steilküste von Pulau Perhentian Besar. Ein paar Meter drüber hat Omar seinen Baldachin aufgestellt. Und eine Liege! Omar ist Masseur und seine Kunden können sich im Schatten traditionell asiatisch durchkneten lassen und dabei noch Wellen und Wind sowie an wühlende Wombats gemahnende Geräusche aus dem Regenwald lauschen. Der Inselurwald beginnt gleich hinter der Küste. Omar hat viel zu tun.

In Malyasia kam mir der Gedanke, mich zu Hause mal einer Thai-Massage zu unterziehen. Ausgerechnet.

Ein wenig mehr als ein halbes Jahr später sitze ich mitten in Dortmund auf einer Holzbank. Vor mir purzeln wieder Wellen an den Strand, wie herumtollende Welpen (oder aber auch Mungos) fallen sie übereinander her und laufen am Ende ganz sanft aus. Im Hintergrund werden Flöten geflötet und erzählen ein Lied von Entspannung, als die Szenerie in eine tropische Auenlandschaft übergeht. Unter dem Flachbildschirm steht ein Weihnachtsbaum. Auch Mitte Januar noch. Bunte Kugeln, Lametta und blinkende Kerzen beißen sich zwar ein wenig mit der Traumwelt, die aus dem Plasma-TV trieft, dafür harmoniert er jedoch hervorragend mit dem Zimmerbrunnen in der Ecke, aus dessen aufgetürmten Kunstfelsen ein kleines Rinnsal plätschert. Darüber hängen zahlreiche gerahmte Kopien von Diplomen über erfolgreich absolvierte Lehrgänge in der thailändischen Wellnessbranche. Offenbar ein Relax-Fachbetrieb. Und dafür bin ich ja schließlich hier. Wollte ich einen schönen Flur sehen, hätte ich Tine Wittler angerufen.

Die Seele beginnt gleich am Eingang zu baumeln, wenn die von Schneematsch tropfenden Winterstiefel für die Dauer des Aufenthalts gegen ein Paar Pantoffeln einzutauschen sind. „Kom dein“ sagt die Empfangsdame. Ihre Stimme klingt wie die Hexe aus „Hänsel und Gretel“, die einen Flummi im Mund hat. Dabei sieht die kleine stabile Thai-Frau natürlich viel freundlicher aus und lacht. Das Wohlbefinden beginnt mit einer Schale Jasmin-Tee, bevor zum Hauptgang in die hinteren Räume gerufen wird: „Junge Mann! Kom.“ Eine bisher unbekannte Insel des Wohlbefindens taucht plötzlich auf. Sollten streng budgetierte Regisseure mal einen Ort suchen, um einen Film über Kleopatra, Kalif Storch oder aber alle beide zu drehen – hier wäre er. 1001 Kissen, weiche Teppiche und Schnörkeltapete. Dazu wallende Vorhänge, die den Harem für die Erholungssuchenden in mehrere Kammern separieren. Es fehlen nur noch Eunuchen mit goldenen Schnabelschuhen und ein bis zwei Harvenspielerinnen. 

Auf einer mit bunten Stofftüchern bezogenen Liege darf ich Platz nehmen. Ausgezogen, bis auf die Unterhose lege ich mich auf den Bauch. Das Gesicht soll in die dafür vorgesehene Öffnung passen, damit der Rest von mir schön flach und entspannt liegt. Es passt nicht. Das Loch in der Liege scheint für kleine Menschen mit kleinen Köpfen erschaffen worden zu sein. Entweder ein Auge liegt auf dem Ring aus zusammengerollten Handtüchern und ich fühle mich wie Karl Dall mit Bindehautentzündung oder mein Kinn passt nicht rein. Irgendwie gelingt es jedoch, eine einigermaßen lockere Position einzunehmen. Dann werde ich komplett mit warmen Handtüchern bedeckt. Ich habe keine Ahnung, wessen Hände es sind. In meinem Blickfeld erscheinen ja nur grobe Frotteefasern und ein dunkler Teppich. Dann wird es schön. An den Füßen beginnt die Behandlung meines durch das harte Leben ausgelaugten Körpers. Die Flötentöne haben es auch bis in diese Kammer geschafft, dazu plumpst irgendwo etwas in langsam aufkochendes Wasser. 

Ich hatte extra keine traditionelle Thai-Massage gebucht. Die ist nämlich ohne Öl und eher was für Masochisten – hab’ ich mir erzählen lassen. Menschen gehen über eines anderen Menschen Rücken. Und das soll der Gesundheit dienlich sein? Ist vielleicht fürs erste Mal ein bisserl gewagt. Doch schon spüre ich einen Druck auf meinen Waden. Nicht den massierender Hände, sondern die Art von Schmerz, der von spitzen Knochen ausgeht. Sie gehören einer kleinen und Gott sei Dank leichten Masseurin. Vermutlich aus Thailand. Zumindest trägt sie diese langen Gewänder, die ich zuletzt bei „Hangover 2“ gesehen habe. Sie bearbeitet meine Oberschenkel und kniet gleichzeitig auf meinen Waden. Kurz vor dem Maschinenraum ist natürlich dankenswerterweise Schluss. Zu den Zertifikaten im Flur gehört offenkundig kein Ingenieursdiplom. Kaum ist sie fertig, fühlen meine Beine eine erneut unbekannte Berührung. Heiße Steine. Die also hat Madame vorher in den brodelnden Geysir geschmissen. Soll die Muskeln entspannen. Glaub’ ich. Nach gefühlt zwei Stunden Tapferkeit, gebe ich das Codewort „Hot“ und sie nimmt die glühenden Lavabrocken aus meinen Kniekehlen. 

Die zierlichen Hände meiner Masseurin und das auf meinen Rücken aufgetragene Aloevera-Öl schaffen es irgendwie nicht, eine harmonische Beziehung miteinander einzugehen. Anstatt, dass sie mit der Geschmeidigkeit eines durch den Regenwald huschenden Panthers über die Haut gleitet, fühlt es sich an, als ob sie einen Trupp Planierraupenfahrer anführt, um dem Lebensraum der Waldkatze den Garaus zu machen. Aber es soll ja auch wirken.

Tut es auch. Der Rucksack, der zuvor meine durch nicht enden wollende Schreibtischarbeit verspannte Schultern belastete, ist plötzlich viel leichter. Und das frische Obst zum Abschluss ist auch lecker. Habe dafür aber nach kiloweise Genuss von Ananas und Litschi am nächsten Tag eine ungewohnt entschlussfreudige Verdauung und einen Muskelkater, wie er nach dem Aufnahmetest beim Kommando Spezialkräfte nicht schlimmer sein könnte.

Nehme beim nächsten Mal gleich die Variante ohne Öl. Wenn schon Thai-Massage, dann richtig. Meine Empfehlung an den König!

Über das Wichsen

Höchste Zeit, dass wir auch an dieser Stelle mal drüber reden. Es ist ja im Prinzip ein simpler Vorgang. Viele Menschen machten es früher täglich, manche auch nur ein bis zwei Mal in der Woche. Der großartige Helmut Berger, der leider viel zu zeitig das Dschungel-Camp verlassen musste, hatte es dem „Spiegel“ vor seinem Auftritt in dem niveaulosen Narrenkäfig sogar als seine Lieblingsbeschäftigung genannt. Erst langsam kreisende, dann immer schneller und kräftiger werdende Bewegungen — und am Ende herrscht Befriedigung. Etwa über einen sauberen Boden oder ein blitzendes Paar Schuhe.  Wichsen. Das bedeutet wachsen oder polieren. Nur leider verbindet heute beinahe jeder – und wohl auch Helmut Berger –  mit diesem Wort eine ganz andere Handlung. Aus der in der Regel auch kein glänzender Fußboden resultiert…

Wohl auch deshalb hat der Thienemann Verlag jüngst beschlossen, aus dem Kinderbuch „Die kleine Hexe“ von Otfried Preußler das Wort „wichsen“ zu streichen. Schade. Dass früher gebräuchliche, aber diskriminierende und rassistische Wörter wie „Neger“ oder „Negerkönig“ (in Pippi Langstrumpf heißt er seit 2009 Südseekönig) ersetzt bzw. herausgenommen werden, ist ja noch verständlich. Wer heute so etwas sagt, will beleidigen. Das muss in Kinderbüchern nicht sein.

Aber wichsen? Einen ehrbaren Akt zur Pflege des Parketts, zur Erhaltung des Schuhwerks einfach so dem Wortschatz der Kinder vorzuenthalten, ist ein Skandal. Damit geht zudem vielen kommenden Generationen von Jungs und Mädels, die beschließen, sich einer Straßenbande anzuschließen, ein wichtiges Synonym verloren. Wer ein Opfer mal so richtig verkloppt, der hat ihn auch „durchgewichst“. So steht’s ebenfalls in „Die kleine Hexe“. Auch raffinierte, gar abgefeimte Typen, die voller Wagemut und einer Portion Kaltschnäuzigkeit ihre Ideen erfolgreich in die Tat umsetzen, dürfen demnach nicht mehr „abgewichst“ genannt werden. Das prangere ich an.

Am allerschlimmsten, ist aber die Sache mit den Schuhen. Ich kann mich erinnern, wie entspannend es früher war, auf der Terrasse den Fußballtretern wieder Glanz, den edlen Salonschleichern wieder Formvollendung zu geben – mit Schuhwichse. Auftragen, polieren. Wie bei Karate-Kid. Das Zeug gab es in jedem Schuhladen und wurde dem Kunden beinahe unaufgefordert in die Tüte gelegt. Heute bekommt man dort nur noch irgendwelche obszön teuren Spraydosen mit Nanopartikeln drin. „Am besten zweimal die Woche mehrmals einsprühen“, heißt es aus dem Mund der Verkäuferinnen. Dann blieben die Schuhe lange schön. Genau. Und die 12,50-Euro-Büchse ist nach zehn Tagen leer und man muss eine neue kaufen….Wenn sie nicht ohnehin schon vorher den Geist aufgibt und anstatt einer breit streuenden Pflegewolke (bitte NICHT in geschlossenen Räumen ausprobieren) nur ein feuchtes Rinnsal aus der Düse lässt. Find’ ich schlimm. Längst hat das Schuhe putzen seine entspannende Wirkung für mich verloren. Ich will wieder wichsen. Mal sehen, was sie im Schuhladen dazu sagen….

Mali, Algerien oder der Preis westlicher Politik

Über Jahrzehnte haben die Regierungen Europas und der USA die Machthaber in Nordafrika gehegt und gepflegt. Ben Ali in Tunesien, Gaddafi in Libyen und Mubarak in Ägypten waren Garanten für Stabilität. Dass ihre Herrschaft auf Gewalt, Terror und Menschenrechtsverletzungen basierte, wurde in Kauf genommen. Bis zum Arabischen Frühling.

Dann demonstrierten die Menschen dort, dass die Zeit für Diktaturen abgelaufen ist. Der Jubel über die Freiheitswelle, die über die arabische Welt hereinbrach, war plötzlich groß. Schnell beeilte sich der Westen, die  Demokratiebemühungen zu beflügeln – wenn es wie in Libyen sein musste auch militärisch.

Nun sind die Diktatoren im Exil, tot oder im Gefängnis. Sie hinterließen ein Machtvakuum, das die gemäßigten Kräfte vor Ort noch nicht gefüllt haben. Stattdessen haben sich radikale Islamisten überall in Nordafrika etabliert und ziehen jetzt grenzüberschreitend ihre Kreise. Bis Mali, wo ein neuer Krieg mit europäischer Beteiligung zu beginnen droht. Bis Algerien, wo militante Islamisten ausländische Arbeiter von BP als Geisel genommen haben. Bei der missglückten Befreiungsaktion der algerischen Armee sollen zahlreiche Geiseln ums Leben gekommen sein.
Auch das ist letztlich der Preis der westlichen Politik. Und er steigt immer höher.

Mein Kommentar ist in kürzerer Fassung auch erschienen auf: http://www.derwesten.de/meinung

Dazu empfehle ich die Einschätzung unseres Korrespondenten Martin Gehlen zur Lage in Nordafrika:
http://www.derwesten.de/politik/droht-nordafrika-ein-flaechenbrand-id7493137.html

Ich verstehe, also verzeihe ich

Ich verstehe, also verzeihe ich

Neulich an einem Kassenautomaten im Parkhaus…Wie so oft lohnt es sich, auf das Kleindgedruckte zu achten…

Das Thema Verständnis hatte ich mir übrigens vor ein paar Tagen in leicht abgewandelter Form der WAZ vorgenommen:

Gerade im neuen Jahr und zu Wochenbeginn will man doch niemandem gleich oder gar immer noch böse sein. Mach dich frei von Grimm und Groll! Verständnis lautet die Parole. Verständnis für ungemachte Betten, Peer Steinbrück oder etwa das Betreuungsgeld.

Verständnis zu haben bedeutet laut Duden das Verstehen (etwa einer Botschaft) oder die Fähigkeit zu besitzen, sich in jemanden/etwas hineinzuversetzen. Empathie, für die Pädagogen unter uns. Offenkundig ist diese Definition jedoch nicht überall angekommen. Oder warum bittet mich die Bahn regelmäßig um Verständnis dafür, dass der Regionalexpress 20 Minuten später eintrifft? Zweifelt sie daran, dass ich die Durchsage begriffen habe oder möchte sie, dass ich mich in die Sorgen des Konzerns über fehlende Waggons, marode Weichen und mangelde Börsentauglichkeit hineinfühle?
Gleiches gilt für diese Hütchen-Kommandos, die Autobahnen abschnittsweise zu Spitzkehren und Nadelöhren verengen – auf deren Baustellen danach aber oft über Wochen keine Walze walzt. Nach kilometerlanger Fahrt durch Pylonen-Schluchten bitten sie die Autofahrer um – natürlich – Verständnis.

Wenn ich jemanden störe, ihm seine Zeit raube und Schuld daran sein sollte, dass er zu spät zur Auflösung einer Käseigel-Zucht kommt, dann bitte ich doch auch nicht um Verständnis. Da sag‘ ich je nach Schwere der Verzögerung und Dienstgrad des Betroffenen „Sorry“, „Pardon“ oder bitte sogar um „Verzeihung“.
Das wird in der Regel dann auch verstanden!

Biografien

Klaus Kinski war ein Sex-Monster, das selbst vor seinem eigenen Kind nicht Halt machte. Walter Gabriel war ein Nazi, der seinen Sohn schlug und danach politisch bekehren wollte. Pola Kinski und Sigmar Gabriel haben jetzt der Öffentlichkeit mitgeteilt, wie sie unter ihren Vätern gelitten haben. Lange nach dem die Peiniger sie nicht mehr quälen konnten. Der Schauspieler Kinski starb bereits 1991 mit 65 Jahren, Gabriels Vater im vergangenen Juni mit über 90. Über Jahrzehnte hatten sie keinen Kontakt. Das zeigt, welche Macht diese Männer noch immer über ihre Kinder hatten, auch wenn sie schon längst tot oder aber zumindest weit weg waren.

Natürlich ist es ein Zufall, dass Pola Kinskis Buch „Kindermund“, in dem sie den Missbrauch beschreibt, und das Ergebnis der Gespräche, die Sigmar Gabriel mit der „Zeit“ über (Rechts-)Radikalität seines Vaters führte, beinahe parallel publik werden. Und vergleichbar sind die Schicksale auch nicht miteinander. Doch haben die Veröffentlichungen eine Gemeinsamkeit. Ihre Kraft. Wenn Menschen einen Blick in ihre Seele erlauben, sieht man sie oft mit anderen Augen. Wenn man liest, welche Grausamkeiten ihnen über viele Jahre – insbesondere in einer so prägenden Zeit wie der Kindheit – widerfahren sind, erscheinen so manche ihrer Wesenzüge in einem anderen Licht. Einige Entscheidungen und Äußerungen werden plötzlich erklärbar – plausibel müssen sie dann noch längst nicht sein. Gerade einem Politiker, der ohnehin täglich in der Öffentlichkeit steht, kann eine aufgeschriebene Biografie durchaus zum Vorteil gereichen.

„Guck’ mal der Sigmar. Vielleicht ist er deshalb immer so aufbrausend.“
 „Jetzt wird mir manches klar. Im Grunde ist er ja kein schlechter Kerl.“
Interpretationen an der Brötchentheke.

Eine Biografie schafft Verständnis. Vielleicht sogar Mitleid, auch wenn den Betroffenen daran nicht gelegen sein mag. Wie die Süddeutsche Zeitung heute schreibt, hat Bill Clinton im US-Wahlkampf gegen George Bush senior erst richtig punkten können, als die Wähler erfahren haben, wie er sich vor seinem stets betrunkenen Vater verstecken musste und ihn seine Mutter allein aufzog. Ein Mann des Volkes.

Sollte Peer Steinbrück ähnlich schlimme Dinge erlebt haben – so mancher Fehltritt der vergangenen Monate würde ihm vermutlich verziehen. Jetzt wäre der Zeitpunkt darüber zu sprechen.

Die Grüßer

War beim Arzt. Musste einfach. Hatte frei. Und schließlich kostet es jetzt ja nichts mehr, seinem Hausarzt sein Leid zu klagen. Die Praxisgebühr ist ja seit Anfang Januar passé. Es gibt Menschen, die das Gesundheitsreform nennen. Ganz so weit möchte ich jedoch nicht gehen. Nun, der Besuch beim Arzt meines Vertrauens befreite mich nicht nur von meinen Sorgen, bald einer seltenen Krankheit zu erliegen – er schaffte auch Erkenntnis: Ich finde wir grüßen zu viel. Ein „Guten Morgen“ zu den Kollegen oder ein „Hallo“ zu den Nachbarn ist ja noch in Ordnung. Aber es gibt wohl kein Land auf der Erde – außer vielleicht Österreich (aber dann mit Titel) – in dem wildfremde Menschen in Wartesälen von Behörden oder Arztpraxen einfach so angegrüßt werden.

Zumeist sind es die Siechtum und Osteoporose deutlich näherkommenden Besucher, die so handeln. Die Abschaffung der Praxisgebühr treibt sie nun wieder scharenweise in der Hoffnung auf einen Schwatz in die Praxen und gibt den Rentnerwochen wieder eine Struktur. Kostenlos. Bei ihrer Ankuft im Warteraum des Arztes teilen sie zunächst ungefragt die Tageszeit mit, bevor sie sich aus ihren Wollmänteln geschält und ihre Filzhüte abgenommen haben. Dann setzen sich die Bakterienträger. Die bunten Kunstfasererzeugnisse beziehungsweise Strickwaren, die sie am Leib tragen, wecken schlimmste Erinnerungen an die Kindheit, als Kratzendes aus dem Hause OpaundOma stets höhnisch unter dem Weihnachtsbaum wartete, wie ein Hooligan, der dir gleich auf die Fresse hauen möchte.  Wenn sie nicht noch ins Labor müssen, verkürzen sie sich die Wartezeit mit der vorhandenen Lektüre. Die Frage, wie viele Menschen den Lesezirkel bereits in ihren Händen hielten, scheinen sie sich nicht zu stellen. Auch treibt es die alten Grüßer nicht um, dass sie sie sich in einem Raum voller Kranker befinden.  Sonst würden sie wohl kaum bei jedem Umblättern der Seiten von „Gala“ und „Stern“ die Finger mit ihrem Speichel befeuchten….Dabei steht doch in jeder Apothekenumschau in der Grippesaison etwas zum Thema Tröpfchenübertragung! Deshalb nehme ich zum Arzt stets meine eigenen Magazine und Bücher mit. Der ein oder andere neidvolle Blick ebenso besorgter Hypochonder ist deshalb schon an meiner Schulter abgeprallt.

Nun denn. Irgendwann ist auch der längste Plausch mit dem Gesundheitsfachmann über „Rücken“ „dat Ziehen inne Schulter“ und „Sodbrennen nach den Feiertagen“ beendet. Dann verlassen die Grüßer zunächst den Arzt mit den Worten, dass er auf sich aufpassen solle und dann ihr Publikum im Wartesaal. Zum Abschied heißt es dann „Auf Wiedersehen“. Sie nennen das Höflichkeit . Wohl aus diesem Grund, eben nicht unhöflich zu erscheinen, rafft sich der Rest der Wartenden zu einer Antwort auf, die mit „allgemeines Gemurmel“ noch wohlwollend beschrieben ist. Wer ein Wiedersehen sät, erntet ein gegrunztes „mfsrzse…hen“. Ich glaube, ein Wiedersehen wünschen sich alle Beteiligten im Wartezimmer nicht wirklich. Ich auf keinen Fall und sag‘ deshalb immer „Tschüss“. Bis zum nächsten Mal.